09.10.2014

OGH konkretisiert Rsp im Sinne von Nademleinsky/Neumayr

Der Vater des am 12.9.2007 geborenen Sohnes Jeremy ist senegalesischer Staatsbürger, die Mutter ist deutsche Staatsbürgerin. Der Vater hat in Berlin die Vaterschaft anerkannt und mit der Mutter die gemeinsame Obsorge mit hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter vereinbart. Im November 2010 trennten sich die Eltern, wohnten jedoch noch bis Februar 2011 in einer gemeinsamen Wohnung. Das Kind wurde hauptsächlich vom Vater betreut. Im Februar 2011 zog die Mutter mit dem Kind aus der gemeinsamen Wohnung aus und lebte seither in einer neuen Beziehung, aus der ein Kind erwartet wurde. Nach dem Auszug betreute der Vater Jeremy anfänglich noch von Freitag bis Montag. Im Februar 2011 brach der Kontakt des Vaters zum Kind wegen der problematischen Kommunikation zwischen den Eltern vorübergehend zur Gänze ab, fand dann aber ab Dezember 2011 über gerichtliche Anordnung wieder statt, und zwar zumindest begleitete Kontakte im Ausmaß von rund 1,5 Stunden wöchentlich. 

Im Mai/Juni 2013 teilte die Mutter dem Vater mit, sie wolle mit dem Kind nach Österreich übersiedeln. Der Vater sprach sich dagegen aus und wollte, dass das Kind in Deutschland verbleibt. Zu dieser Zeit fand der letzte Kontakt zwischen dem Vater und dem Kind statt. Im Juli 2013 übersiedelte die Mutter gegen den Willen des Vaters mit dem Kind nach Österreich.

Der Vater beantragte am 17. 12. 2013 die Rückführung des Kindes nach Deutschland nach dem HKÜ.

Das ErstG ordnete die Rückführung des Kindes auf deutsches Staatsgebiet an. Das RekG wies den Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes ab. Der Vater habe vor der Verbringung des Kindes nach Österreich lediglich sein Kontaktrecht ausgeübt, eine weitergehende Beteiligung am Leben seines Sohnes sei nicht festgestellt worden. Die Voraussetzung der tatsächlichen Ausübung eines Obsorgerechts nach Art 3 HKÜ sei nicht erfüllt, wenn ein Elternteil bloß sein Umgangsrecht ausgeübt habe.

Der OGH gab dem zugelassenen RevRek des Vaters Folge und stellte die erstgerichtliche E wieder her.

Aus den Entscheidungsgründen:

1. Nach der zu RIS-Justiz RS0106625 (vgl auch RS0106624) indizierten Rsp des OGH, auf die sich das RekG stützte, ist Voraussetzung für die Anwendung des Art 3 HKÜ die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorgerechts oder Mitobsorgerechts. Bei einer Trennung der Eltern erfüllt diese Voraussetzung in der Regel nur der Elternteil, bei dem das Kind wohnt, die Ausübung eines bloßen Umgangsrechts genügt nicht. Dabei ging es regelmäßig um Fälle, in denen der eine Elternteil (allein) obsorgeberechtigt und der andere (lediglich) umgangsberechtigt war (etwa 7 Ob 35/97s; 1 Ob 167/08b; 6 Ob 73/12x; vgl auch 8 Ob 368/97v). Ein solcher Fall liegt hier allerdings nicht vor; beide Elternteile verfügen über die (gemeinsame) Obsorge nach deutschem Recht.

2. Der OGH hat diesen Grundsatz zwar auch in Fällen angewendet, in denen beiden Elternteilen die (gemeinsame) Obsorge zukam, der entführende Elternteil also (lediglich) in die Mitobsorge des anderen Elternteils eingriff.

2.1. Dabei ging es allerdings zum einen um Fälle, in denen das dem anderen Elternteil eingeräumte Umgangsrecht „weit über ein klassisches Wochenend- bzw Ferienbesuchsrecht“ hinausging (1 Ob 163/09s; 5 Ob 227/10h: „Sorgerecht … ausgeübt“; vgl auch 6 Ob 36/13g), weshalb eine Sorgerechtsverletzung bejaht wurde.

2.2. Zum anderen ging es um Fälle, in denen die tatsächliche Kontaktausübung zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil in einem Ausmaß erfolgt war, welches ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht bei Weitem unterschritt“, und dieser Elternteil außerdem jenseits der Besuchskontakte am Leben des Kindes keinen Anteil nahm, keinerlei Entscheidungen mittraf und insbesondere auch sein Recht nicht ausübte, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (6 Ob 139/10z; ebenso 6 Ob 230/12k, wo der andere Elternteil mehr als ein Jahr vor dem Verbringen des Kindes keinen Besuchskontakt mehr mit dem Kind gehabt hatte); in diesen Fällen wurde die Sorgerechtsverletzung verneint.

2.3. Die Entscheidungen 8 Ob 25/05t, 1 Ob 219/10b, 6 Ob 39/13y und 6 Ob 66/14w erwähnen zwar die zu 1. dargestellte Rsp; diese war dort jedoch jeweils nicht entscheidungsrelevant. Die Entscheidungen 6 Ob 135/03a, 8 Ob 121/03g und 6 Ob 116/14y sind überhaupt nicht einschlägig.

3. In der österreichischen Lit wurde die zu 1. dargestellte Rsp kritisiert. Vor allem Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht [2007] Rz 09.07) meinten, richtigerweise sei die tatsächliche Ausübung der Obsorge im Sinn des Art 3 HKÜ nur in Situationen zu verneinen, in welchen ein sorgeberechtigter Elternteil sich objektiv nicht mehr für das Kind interessiert. Auch Gitschthaler (in Schwimann/Kodek, ABGB4 ErgBd 1a zum KindNamRÄG 2013 [2013] § 162 Rz 15) äußerte zuletzt Bedenken und wollte in der Entscheidung 6 Ob 36/13g „Tendenzen für einen möglichen Judikaturwandel erkennen“.

4. In dieser Entscheidung hatte der erkennende Senat auf deutsche Literaturmeinungen (und zweitinstanzliche Rsp in Deutschland) verwiesen, die die Anwendungsvoraussetzung der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts oder Mitsorgerechts bei einer Trennung der Eltern auch bei Ausübung eines bloßen Umgangsrechts genügen lassen wollen.

5.1. Entgegen der vom RekG vertretenen Auffassung gibt es – soweit ersichtlich – keine Entscheidungen des OGH, in denen bei gemeinsamer Obsorge beider Eltern bzw jeweiliger Alleinobsorge die tatsächliche Ausübung dieser Mitobsorge schon allein deshalb verneint worden wäre, weil die tatsächlich ausgeübten Kontakte ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht bei Weitem unterschritt[en]“ hätten. Tatsächlich handelte es sich jeweils um Fälle, in denen sich der (ebenfalls) sorgeberechtigte Elternteil objektiv nicht mehr für das Kind interessiert hatte (6 Ob 139/10z; 6 Ob 230/12k) und in denen auch Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht Rz 09.07) eine tatsächliche Ausübung der Mitobsorge verneint hätten (vgl 6 Ob 139/10z). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor:

5.2. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen steht den Eltern im vorliegenden Fall die gemeinsame Obsorge zu. Zum (maßgeblichen) Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verbringen des Kindes nach Österreich übte der Vater sein Kontaktrecht regelmäßig aus. Auch wenn er möglicherweise lediglich Kontakte zum Kind hatte, die ein klassisches Wochenend- bzw Ferienbesuchsrecht unterschritten, ist doch zu berücksichtigen, dass sich der Vater zum einen um die Festsetzung eines Kontaktrechts bei Gericht und um ein Einvernehmen mit der Mutter bei unbegleiteten Kontakten bemüht und sich zum anderen auch gegen eine Übersiedlung von Mutter und Kind nach Österreich ausgesprochen hatte. Von einem objektiven Desinteresse des Vaters an den Kontakten bzw an seinem Kind kann somit nicht gesprochen werden. Dazu kommt, dass der Vater hier nicht auf ein reines Kontaktrecht beschränkt war, sondern auch über die Mitobsorge verfügte.

5.3. Selbst wenn man somit die zu 1. dargestellte Rsp aufrecht erhalten wollte, wäre sie auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Der Vater hat vor der Verbringung des Kindes nach Österreich sein Mitsorgerecht tatsächlich ausgeübt, sodass die Verbringung widerrechtlich war, was sich im Übrigen auch aus der deutschen Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art 15 HKÜ ergibt. Damit war der erstinstanzliche Beschluss wieder herzustellen.

OGH 9.10.2014
6 Ob 167/14y

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