Privatscheidung unterfällt nicht Rom III-VO
Sachverhalt:
Herr Mamisch und Frau Sahyouni schlossen am 27. Mai 1999 im Bezirk des islamrechtlichen Gerichts in Homs (Syrien) die Ehe. Herr Mamisch ist seit Geburt syrischer Staatsangehöriger. 1977 wurde er in Deutschland eingebürgert. Seitdem besitzt er beide Staatsangehörigkeiten. Frau Sahyouni ist seit Geburt syrische Staatsangehörige. Nach der Eheschließung erwarb sie die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die Eheleute lebten bis 2003 in Deutschland und verzogen anschließend nach Homs. Wegen des syrischen Bürgerkriegs begaben sie sich im Sommer 2011 erneut kurzzeitig nach Deutschland. Ab Februar 2012 lebten sie abwechselnd in Kuwait und im Libanon. Während dieses Zeitraums hielten sie sich wiederholt auch in Syrien auf. Aktuell leben beide Parteien des Ausgangsverfahrens mit unterschiedlichen Wohnsitzen wieder in Deutschland.
Am 19. Mai 2013 erklärte Herr Mamisch die Scheidung von seiner Ehefrau, indem sein Bevollmächtigter vor dem geistlichen Scharia‑Gericht in Latakia (Syrien) die Scheidungsformel aussprach. Das Gericht stellte am 20. Mai 2013 die Scheidung der Ehegatten fest. Am 12. September 2013 unterzeichnete Frau Sahyouni eine Erklärung über ihr nach religiösen Vorschriften zustehenden Leistungen von Herrn Mamisch in Höhe von insgesamt 20 000 US-Dollar (USD) (etwa 16 945 Euro), die wie folgt lautete:
„… Ich habe alle mir aus dem Ehevertrag und aufgrund der auf einseitigen Wunsch vorgenommenen Scheidung zustehenden Leistungen erhalten und somit befreie ich ihn von allen mir aus dem Ehevertrag und dem von dem Scharia-Gericht Latakia erlassenen Scheidungsbeschluss vom 20. Mai 2013 zustehenden Verpflichtungen …“.
Herr Mamisch beantragte am 30. Oktober 2013 die Anerkennung der in Syrien ausgesprochenen Ehescheidung. Der Präsident des OLG München gab diesem Antrag mit Entscheidung vom 5. November 2013 statt und stellte fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Ehescheidung vorlägen.
Am 18. Februar 2014 beantragte Frau Sahyouni, diese Entscheidung aufzuheben und auszusprechen, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung der Ehescheidung nicht erfüllt seien.
Mit Entscheidung vom 8. April 2014 half der Präsident des OLG München der Beschwerde nicht ab. Die Anerkennung der Ehescheidung richte sich nach der Rom III-VO, die auch auf solche Ehescheidungen anwendbar sei, die nicht unter konstitutiver Mitwirkung eines Gerichts oder einer Behörde ausgesprochen würden (im Folgenden: Privatscheidungen). Mangels wirksamer Rechtswahl und mangels gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten im Jahr vor der Scheidung sei das anzuwendende Recht nach Art. 8 Buchst. c dieser Verordnung zu bestimmen. Wenn beide Ehegatten die doppelte Staatsangehörigkeit besäßen, komme es auf die effektive Staatsangehörigkeit im Sinne des nationalen Rechts an. Diese sei zum Zeitpunkt der betreffenden Scheidung die syrische gewesen. Der ordre public im Sinne von Art 12 der Rom III-VO stehe der Anerkennung der Scheidung nicht entgegen.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2015 setzte das mit der Rechtssache befasste OLG München das Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen nach der Auslegung der Rom III-VO zur Vorabentscheidung vor. Mit Beschluss vom 12. Mai 2016, Rs C‑281/15 (Sahyouni) hat sich der EuGH für die Beantwortung dieser Fragen für offensichtlich unzuständig erklärt und dies ua damit begründet, dass die Rom III-VO für die Anerkennung einer in einem Drittstaat ergangenen Ehescheidung nicht gelte und dass das vorlegende Gericht keinen Anhaltspunkt dafür geliefert habe, dass die Bestimmungen dieser Verordnung nach dem nationalen Recht unmittelbar und unbedingt auf Sachverhalte wie dem im Ausgangsverfahren streitigen anwendbar seien. Er hat jedoch darauf hingewiesen, dass es dem vorlegenden Gericht unbenommen bleibe, ein neues Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn es dem Gerichtshof Anhaltspunkte zu liefern vermöge, die ihm eine Entscheidung ermöglichten.
Unter diesen Umständen hat das OLG München beschlossen, das Verfahren (neuerlich) auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Vorlagefragen:
1.) Ist der Anwendungsbereich nach Art 1 Rom III-VO auch für Fälle der Privatscheidung – hier: durch einseitige Erklärung eines Ehegatten vor einem geistlichen Gerichtshof in Syrien aufgrund der Scharia – eröffnet?
2.) Falls die Frage 1 bejaht wird, ist bei Anwendung der Rom III-VO im Rahmen der Prüfung von deren Art 10 in Fällen der Privatscheidung
a) abstrakt auf einen Vergleich abzustellen, wonach das gemäß Art. 8 anzuwendende Recht einen Zugang zur Ehescheidung zwar auch dem anderen Ehegatten gewährt, diese aufgrund seiner Geschlechtszugehörigkeit aber an andere verfahrensrechtliche und materielle Voraussetzungen knüpft wie an den Zugang des einen Ehegatten, oder
b) das Eingreifen der Norm davon abhängig, dass die Anwendung des abstrakt diskriminierenden ausländischen Rechts auch im Einzelfall – konkret – diskriminiert?
3.) Falls die Frage 2 b bejaht wird, ist ein Einvernehmen des diskriminierten Ehegatten mit der Ehescheidung – auch in der Form der gebilligten Entgegennahme von Ausgleichsleistungen – bereits ein Grund, die Norm nicht anzuwenden?
Antworten:
Zur Beantwortung der ersten Frage ist die Bestimmung, die den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung festlegt, auszulegen, und zwar unter Berücksichtigung nicht nur ihres Wortlauts, sondern auch ihres Zusammenhangs und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.
Was als Erstes den Wortlaut von Art 1 der Rom III-VO betrifft, heißt es in Abs 1 dieses Artikels lediglich, dass diese Verordnung für die Ehescheidung und die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes in Fällen gilt, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. In Abs 2 sind die Regelungsgegenstände aufgeführt, die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind, „auch wenn diese sich nur als Vorfragen im Zusammenhang mit einem Verfahren betreffend die Ehescheidung oder Trennung ohne Auflösung des Ehebandes stellen“. Dem Wortlaut dieses Artikels lässt sich demnach kein hilfreiches Kriterium für die Bestimmung des Begriffs „Ehescheidung“ im Sinne dieser Vorschrift entnehmen.
Als Zweites ist bezüglich des Zusammenhangs, in dem Art 1 der Rom III-VO steht, zuallererst festzustellen, dass der Begriff „Ehescheidung“ im Sinne dieser Verordnung in keiner anderen Vorschrift der Verordnung bestimmt wird. Insbesondere beschränkt sich Art 3 der Verordnung auf die Bestimmung der Begriffe „teilnehmender Mitgliedstaat“ und „Gericht“, wobei letzterer Begriff so zu verstehen ist, dass er „alle Behörden der teilnehmenden Mitgliedstaaten, die … zuständig sind“, erfasst.
Sodann sind, wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Privatscheidungen zwar nicht ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Rom III-VO ausgenommen, doch wird aus den in mehreren Bestimmungen dieser Verordnung – wie Art 1 Abs 2, Art 5 Abs 2 und 3, Art 8, Art 13 und Art 18 Abs 2 – enthaltenen Bezugnahmen auf das Tätigwerden eines „Gerichts“ und das Vorhandensein eines „Verfahrens“ deutlich, dass die Rom III-VO ausschließlich solche Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw unter deren Kontrolle ausgesprochen werden. Dafür spricht im Übrigen die Verwendung des Begriffs „gerichtliche Verfahren“ in Art 18 Abs 1 der Verordnung.
Schließlich sollten nach dem zehnten Erwägungsgrund der Rom III-VO der sachliche Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung mit der Brüssel IIa-VO im Einklang stehen.
Die Brüssel IIa-VO gilt nach ihrem Art 1 Abs 1 Buchst a „ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für … die Ehescheidung“. In Art 2 Nr 4 der Verordnung ist der Begriff „Entscheidung“ im Sinne dieser Verordnung in der Weise definiert, dass er ua „jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung …, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss“, erfasst.
Eine unterschiedliche Definition des in diesen beiden Verordnungen verwendeten Begriffs der Ehescheidung hätte zur Folge, dass kein Einklang der Anwendungsbereiche der Verordnungen bestünde und diese folglich unterschiedlich wären.
Zum letztgenannten Punkt ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Rom III-VO als auch die Brüssel IIa-VO im Rahmen der Politik der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen ergangen sind. Außerdem geht aus den Erklärungen der Kommission hervor, dass sie selbst in ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Brüssel IIa-VO im Hinblick auf die Zuständigkeit in Ehesachen und zur Einführung von Vorschriften betreffend das anwendbare Recht in diesem Bereich (KOM[2006]399) sogar die Absicht hatte, die kollisionsrechtlichen Regeln für die Ehescheidung in die Brüssel IIa-VO aufzunehmen. Da dem Vorschlag insoweit jedoch nicht gefolgt worden sei, seien diese Regeln in eine andere Verordnung, nämlich in die Rom III-VO, aufgenommen worden.
Was als Drittes das mit der Rom III-VO verfolgte Ziel anbelangt, ergibt sich aus dem Titel der Verordnung, dass sie unter den teilnehmenden Mitgliedstaaten eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts begründet.
Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, waren es zur Zeit des Erlasses dieser Verordnung nur öffentliche Organe, die in den Rechtsordnungen der an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten in diesem Bereich Entscheidungen mit rechtlicher Bedeutung erlassen konnten. Es ist daher davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass dieser Verordnung nur die Situationen vor Auge hatte, in denen die Ehescheidung entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw unter deren Kontrolle ausgesprochen wird, und es daher nicht seine Absicht war, dass diese Verordnung auf andere Arten von Ehescheidungen wie diejenige angewandt wird, die – wie im vorliegenden Fall – auf einer vor einem geistlichen Gericht abgegebenen „einseitigen Willenserklärung“ beruhen.
Diese Auslegung wird durch den von der Kommission in der mündlichen Verhandlung angeführten Umstand bestätigt, dass in den Verhandlungen, die zum Erlass der Rom III-VO geführt haben, eine Anwendung dieser Verordnung auf Privatscheidungen nicht erwähnt wurde.
Auch wenn seit dem Erlass der Rom III-VO mehrere Mitgliedstaaten in ihrer Rechtsordnung die Möglichkeit eingeführt haben, Ehescheidungen ohne Tätigwerden einer staatlichen Behörde auszusprechen, wären, wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, für die Einbeziehung von Privatscheidungen in den Anwendungsbereich dieser Verordnung Änderungen erforderlich, für die allein der Unionsgesetzgeber zuständig ist.
Unter Berücksichtigung der Definition des Begriffs „Ehescheidung“ in der Brüssel IIa-VO ergibt sich daher aus den mit der Rom III-VO verfolgten Zielen, dass diese Verordnung nur Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw unter deren Kontrolle ausgesprochen werden.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 1 Rom III-VO dahin auszulegen ist, dass eine durch einseitige Erklärung eines Ehegatten vor einem geistlichen Gericht bewirkte Ehescheidung wie die im Ausgangsverfahren streitige nicht in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten.
EuGH 1. Kammer, 20. 12. 2017, Rs C- 372/16 [Soha Sahyouni gegen Raja Mamisch]
Anmerkung:
Diese mit Spannung erwartete Entscheidung des EuGH wird die Literatur noch intensiv beschäftigen. An dieser Stelle seien folgende Denkanstöße erlaubt:
1. Dass der Begriff der „Ehescheidung“ in der Rom III-VO und der Brüssel IIa-VO gleich zu interpretieren ist, müsste auch dazu führen, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO fällt; dies war bislang strittig.
2. Unter „Entscheidung“ im Sinn der Rom III-VO und der Brüssel IIa-VO fallen also nur konstitutive Entscheidungen. Auch das autonome dt Recht (§ 107 FamFG) dürfte dies so sehen. Davon unterscheidet sich das weite Begriffsverständnis der österr Rsp, wonach auch Entscheidungen, an denen eine Behörde lediglich registrierend mitgewirkt hat, nach den Anerkennungsregeln (und nicht bloß „ip-rechtlich“) zu beurteilen sind.
3. Privatscheidungen, wie sie mittlerweile in einigen europäischen Ländern eingeführt wurden – nämlich als einvernehmliche Scheidung vor dem Notar oder anwaltsunterstützt – nehmen nicht am Anerkennungsverkehr innerhalb der EU teil. Ob sich eine Anerkennungspflicht aus dem Primärrecht ergibt (Stichwort: Anerkennung von „Statuslagen“), ist offen.
4. Wenn die Privatscheidung weder in den Anwendungsbereich der Rom III-VO noch der Brüssel IIa-VO fällt, ist sie nach nationalem Recht zu beurteilen. In Österreich wird sie von der Rsp nach §§ 97ff AußStrG beurteilt, wenn eine Behörde zumindest registrierend tätig wurde (vgl Pkt 2). Nur reine Privatscheidungen ohne jegliche behördliche Mitwirkung würden nach §§ 18, 20 IPRG beurteilt.
5. Die spannenden Fragen 2 und 3 – ob es auf die abstrakte Diskriminierung ankommt oder eine ergebnisbezogene ordre-public-Prüfung geboten ist – bleiben offen und damit der wesentliche Anwendungsbereich von Art 10 Fall 2 Rom III-VO ungeklärt. Im nationalen Recht (§§97 ff AußStrG sowie §§ 18, 20 IPRG) kommt es jedenfalls auf eine ergebnisbezogene Rechtsanwendung an.