Internationale Zuständigkeit für Kontaktregelung
Die Ehe der Eltern wurde am 31. 3. 2011 gem § 55a EheG geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarten die Eltern die beiderseitige Obsorge für die Kinder. Zudem wurde der überwiegende Aufenthalt der Kinder bei der Mutter bestimmt und das (Wochenend-)Kontaktrecht des Vaters geregelt. In der Folge beantragten sowohl der Vater (am 18. 12. 2012) als auch die Mutter (am 29. 1. 2013) die Übertragung der alleinigen Obsorge für die beiden Kinder. Das Sorgerechtsverfahren ist beim ErstG nach wie vor anhängig.
Am 12. 8. 2013 gab der Vater dem ErstG den Wechsel seines Wohnsitzes nach Deutschland bekannt. Mit EV vom 27. 12. 2013 entzog das ErstG der Mutter vorläufig die Obsorge für die beiden Kinder und übertrug diese vorläufig dem Vater. Die Geltungsdauer der EV wurde mit dem Zeitraum bis zur rk E im Sorgerechtsverfahren bestimmt. Seit Ende Dezember 2013 leben die beiden Kinder beim Vater in Deutschland. Sie besuchen dort den Kindergarten bzw die Schule und sind an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort sozial integriert.
Am 17. 6. 2014 beantragte die Mutter beim ErstG die Festlegung eines zeitlich näher präzisierten Kontaktrechts zu den beiden Kindern (Betreuung in Deutschland und in Österreich, Videotelefonie mittels Skype, Ferienkontaktrecht). Das ErstG wies diesen Antrag mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder befinde sich nicht mehr in Österreich. Das RekG bestätigte diese E.
Der OGH:
1.1. Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO stellt den Grundsatz auf, dass sich die Zuständigkeit der Gerichte der MSt für E, die die elterliche Verantwortung betreffen, danach richtet, wo das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ohne dass dieser Begriff inhaltlich bestimmt wird (EuGH C-523/07 Rn 31; C-436/13 Rn 41). Nach Art 8 Abs 2 Brüssel IIa-VO und dem ErwGr 12 sind von dieser allgemeinen Zuständigkeit abweichende andere Zuständigkeiten nur in bestimmten Fällen zulässig, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes nach Art 9 Brüssel IIa-VO geändert oder die Träger der elterlichen Verantwortung nach Art 12 Abs 3 Brüssel IIa-VO etwas anderes vereinbart haben. Für die Beurteilung der Zuständigkeit eines Gerichts nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO ist der Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend. Daraus folgt, dass die Zuständigkeit eines Gerichts für E, die die elterliche Verantwortung betreffen, in jedem Einzelfall, wenn bei einem Gericht ein Verfahren anhängig gemacht wird, zu prüfen und zu bestimmen ist. Dies bedeutet, dass die Zuständigkeit nicht über den Abschluss des anhängigen Verfahrens hinaus bestehen bleibt (EuGH C-436/13 Rn 40). Damit ist die Frage, was unter einem Verfahren (ein Verfahren über die elterliche Verantwortung oder jeder Antrag in einem solchen Verfahren) zu verstehen ist, noch nicht geklärt.
1.2. Nach Art 2 Nr 7 Brüssel IIa-VO umfasst die elterliche Verantwortung die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch E oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Gem Art 1 Abs 2 lit a gehören das Sorgerecht und das Umgangsrecht zu den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung. Die Brüssel IIa-VO regelt im gegebenen Zusammenhang somit die elterliche Verantwortung. Dementsprechend nimmt auch der EuGH in seinen Zuständigkeitsentscheidungen stets auf die elterliche Verantwortung bzw auf die Träger der elterlichen Verantwortung Bezug und splittet nicht zwischen Sorgerecht (Obsorge) einerseits und Umgangsrecht (Kontaktrecht) andererseits (vgl etwa EuGH C-523/07; C-296/10; C-436/13; C-376/14 PPU). Daraus lässt sich ableiten, dass die elterliche Verantwortung als einheitlicher Begriff und damit ohne Aufsplittung in einzelne Aspekte nach Maßgabe des nationalen Rechts zu betrachten ist.
1.3. Damit im Einklang folgt aus der Rsp des EuGH, dass Verfahren, deren Gegenstand die elterliche Verantwortung bildet, denselben Anspruch iSd Art 19 der Brüssel IIa-VO betreffen (EuGH C-296/10; vgl auch C-376/14 PPU). Art 19 Brüssel IIa-VO betrifft die Rechtshängigkeit. Danach hat das später angerufene Gericht bei Rechtshängigkeit das Verfahren deshalb auszusetzen, um dem zuerst angerufenen Gericht zu ermöglichen, über seine Zuständigkeit zu entscheiden. Die Vorschriften über die Rechtshängigkeit haben im Interesse einer geordneten Rechtspflege in der EU zum Ziel, Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener MGSt und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche E zu verhindern. Nach dem Wortlaut des Art 19 Abs 2 liegt Rechtshängigkeit vor, wenn bei Gerichten verschiedener MGSt Verfahren über die elterliche Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden. Der Begriff „derselbe Anspruch“ (in der Hauptsache) ist unter Berücksichtigung des Regelungsziels des Art 19 Abs 2 zu definieren, das darin besteht, miteinander unvereinbare E zu verhindern. Daraus folgt etwa, dass im Verhältnis zwischen einem Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen (vorläufiger Rechtsschutz) nach Art 20 Brüssel IIa-VO und einem Antrag in der Hauptsache (grundsätzlich) keine Rechtshängigkeit besteht (siehe dazu C-296/10 Rn 64 ff und Rn 78). Auch die Rückführung eines (in Verletzung des Sorgerechts) widerrechtlich in einen anderen MGSt verbrachten oder dort zurückgehaltenen Kindes in den UrsprungsMGSt betrifft nicht den selben Anspruch wie die Regelung der Obsorge, weil die E über die Rückführung nicht die elterliche Verantwortung betrifft (EuGH C-376/14 PPU, Rn 40).
1.4. Diese Überlegungen sprechen auf Basis der Rsp des EuGH deutlich für eine Einheitlichkeit eines (anhängigen) Verfahrens über alle Aspekte der elterlichen Verantwortung.
2.1. Unbeschadet dieser Überlegungen thematisiert die Mutter zu Recht die Frage, ob sich der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder tatsächlich in Deutschland befindet. Nicht zweifelhaft ist, dass die Kinder rechtmäßig vom Vater nach Deutschland gebracht wurden. Grundlage dafür war die EV des ErstG vom 27. 12. 2013, also eine vorläufige Maßnahme nach Art 20 Brüssel IIa-VO. Mit dieser Beurteilung ist aber die Qualifikation als gewöhnlicher Aufenthalt noch nicht automatisch verbunden.
2.2 Mit den Kriterien zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Brüssel IIa-VO hat sich der EuGH bereits mehrfach befasst (s dazu EuGH C-376/14 PPU, Rn 50 ff mwN; vgl auch C-497/10 PPU)…
2.3 Aus diesen Grundsätzen folgt, dass eine bloß vorübergehende Verlegung des Aufenthalts des Kindes in einen anderen MGSt, auch wenn dies rechtmäßig erfolgte, gegen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts spricht. Ist die Grundlage der Verlegung des Aufenthalts eine nur vorläufige gerichtliche E, so kann im Allgemeinen noch nicht von einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen werden.
Genau diese Umstände liegen im Anlassfall vor. Die Übersiedlung der Kinder erfolgte aufgrund einer EV, die bis zur E über die Obsorge im bereits anhängigen österreichischen Verfahren befristet wurde. Der Vater konnte aufgrund des nach wie vor anhängigen Obsorgeverfahrens, das beide Eltern mit jeweils einem eigenen Antrag beim ErstG eingeleitet haben, nicht davon ausgehen, dass sich die Kinder nunmehr dauernd rechtmäßig in Deutschland aufhalten werden. Die Dauer des Aufenthalts von sechs Monaten ist keineswegs derart gravierend, dass dieser Umstand den dargestellten Grundsatz in Frage stellen könnte. Das Gleiche gilt für die vom RekG angeführte soziale Integration der Kinder.
2.4 Der OGH gelangt damit zum Ergebnis, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Deutschland noch nicht ausgegangen werden kann. Damit ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht gegeben. Vielmehr liegt die internationale Zuständigkeit (auch) für die E über das Kontaktrecht nach wie vor beim ErstG.
2.5. Dementsprechend wird das ErstG das Verfahren über den Antrag auf Festlegung des Kontaktrechts der Mutter unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund fortzusetzen haben.
OGH 26.02.2015, 8 Ob 14/15i
Eigene Anmerkung:
Eine gar nicht seltene Konstellation: während des laufenden Obsorgeverfahrens erhält ein Elternteil vorläufig die alleinige Obsorge bzw Erlaubnis zur Ausreise und zieht sodann mit dem Kind ins Ausland. Die Zuständigkeit für das Obsorgeverfahren bleibt auch nach dem Wegzug aufrecht (perpetuatio fori), jedenfalls soweit es sich beim neuen Aufenthaltsstaat um einen anderen EU-Staat handelt. In Punkt 1 der vorliegenden Entscheidung trifft der OGH die richtungsweisende Aussage, dass sich die Zuständigkeit in diesem Fall auch auf einen nachfolgenden Kontaktrechtsantrag erstreckt, weil die Brüssel IIa-VO insofern nicht zwischen Obsorge- und Kontaktsrechtsverfahren differenziert, sondern auf den übergeordneten Begriff der „elterlichen Verantwortung“ abstellt. Für diese Lösung führt der OGH durchaus überzeugende Gründe an. Es fragt sich aber, ob sie nicht auch den umgekehrten Fall erfasst – ein zunächst für eine Kontaktregelung zuständig gemachtes Gericht wäre auch für einen späteren Obsorgeantrag zuständig, weil es sich um ein einheitliches Verfahren der „elterlichen Verantwortung“ handelt. Intuitiv regt sich ein gewisses Unbehagen gegen dieses Ergebnis. Derartige Fälle werden sich aber wohl über die Feststellungen zum gewöhnlichen Aufenthalt gut in den Griff bekommen lassen. Da wären wir beim nächsten Stichwort:
Teil 2 der Entscheidung – betr den gewöhnlichen Aufenthalt – dient offenbar der Absicherung des bereits zu 1 gewonnenen Ergebnisses, enthält aber nicht unproblematische Aussagen. Richtig ist, dass eine bloß vorläufig erteilte Erlaubnis zur Verlegung des Aufenthalts in das Ausland in der Praxis dazu führen kann, dass sich das Kind nicht so schnell im Ausland integriert, weil es (bzw sein Elternteil) mit der Rückkehr rechnen muss. Eine Automatik gibt es aber nicht. Auch entführte Kinder können (und werden) nach gewisser Zeit ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland erlangen; das sieht selbst das HKÜ (vgl Art 12 Abs 2) und die Brüssel IIa-VO (vgl Art 10 lit b) vor. Nicht unproblematisch ist auch die Aussage, der Vater könne nicht davon ausgehen, dass sich die Kinder nunmehr dauernd rechtmäßig in Deutschland aufhalten werden. Das Verbringen der Kinder war nicht rechtswidrig, ob es das Zurückhalten ist, betrifft eine schwierige Frage der Anwendung des HKÜ, die besser an anderer Stelle gelöst werden sollte.
Der Anwendungsbereich von Art 9 Brüssel IIa-VO (Zuständigkeit für einen Antrag auf Änderung des Umgangsrechts für die Dauer von drei Monaten nach einem rechtmäßigen Umzug) beschränkt sich nach der vorliegenden Entscheidung auf Fälle, in denen vor dem Wegzug kein Verfahren anhängig war. Das ist nicht weiter aufregend.
Für das Problem, dass ein Umgangsrechtsverfahren ohne Anwesenheit des Kindes in der Praxis überaus unerquicklich ist, hält die Brüssel IIa-VO auch schon eine Lösung parat, und zwar in Art 15: mit Zustimmung eines Elternteils kann die Zuständigkeit auf das ausländische Gericht übertragen werden. Die beteiligten Gerichte sind eingeladen, direkt zusammenzuarbeiten (Art 15 Abs 6). Vielleicht könnte von dieser Möglichkeit öfter Gebrauch gemacht werden, anstatt den Antrag gleich mangels Zuständigkeit zurückzuweisen? Das betroffene Kind würde es sicher danken.