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Rückwirkende Anwendung von Kindesunterhaltsrecht | Attorney at law in Vienna, Dr. Nademleinsky

Case Law

Rückwirkende Anwendung von Kindesunterhaltsrecht

Die am 6. März 2013 geborene KP und ihre Eltern sind deutsche Staatsangehörige und lebten bis zum 27. Mai 2015 in Deutschland. Am 28. Mai 2015 zogen KP und ihre Mutter nach Österreich, das der Ort ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts geworden ist. Am 18. Mai 2015 beantragte KP beim Bezirksgericht Fünfhaus (Österreich), LO zur Zahlung von Unterhalt zu verpflichten. Am 18. Mai 2016 dehnte KP ihren Antrag auf den Zeitraum vom 1. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2015 aus.

Das Bezirksgericht Fünfhaus wies den Antrag von KP auf Zahlung von Unterhalt für den Zeitraum vom 1. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2015 mit der Begründung ab, für diesen Zeitraum sei nach Art. 3 des Haager Protokolls deutsches Recht anzuwenden, dessen Voraussetzungen für die Geltendmachung rückständigen Unterhalts nicht erfüllt seien. Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls, der die Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts betreffe, beziehe sich nur auf Ansprüche, die seit Begründung des neuen gewöhnlichen Aufenthalts entstanden seien.

13      Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien (Österreich) bestätigte die Entscheidung des Bezirksgerichts Fünfhaus.

14      Gegen die Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien erhob KP Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich), das vorlegende Gericht.

15      Vor dem vorlegenden Gericht macht KP geltend, dass nach Art. 3 Abs. 1 des Haager Protokolls auf ihren Antrag auf Unterhaltszahlung deutsches Unterhaltsrecht anzuwenden sei, sie jedoch keinen rückwirkenden Unterhalt erlangen könne, da die Voraussetzungen des § 1613 BGB nicht erfüllt seien. Daher müsse gemäß Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls österreichisches Recht zur Anwendung gelangen, das rückwirkende Unterhaltszahlungen zulasse.

16      Demgegenüber vertritt LO die Auffassung, dass Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls nicht auf Fälle zur Anwendung gelange, in denen einzelne Unterhaltsbeträge verjährt oder verfristet seien. Außerdem könne diese Bestimmung nur dann zur Anwendung gelangen, wenn das Verfahren von der unterhaltspflichtigen Person eingeleitet worden sei oder wenn das angerufene Gericht in einem Staat liege, in dem keine der Parteien ihren Aufenthalt habe. Im vorliegenden Fall habe KP aber ein Gericht des Staates ihres nunmehrigen gewöhnlichen Aufenthalts angerufen. Ferner könne die genannte Bestimmung nicht auf einen Antrag auf rückwirkende Unterhaltszahlung angewendet werden, der nach einem Umzug der unterhaltsberechtigten Person gestellt werde.

17      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass nach Art. 3 Abs. 2 des Haager Protokolls bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person das Recht des Staates, in dem diese Person ihren neuen gewöhnlichen Aufenthalt habe, ab dem Zeitpunkt dieses Wechsels und somit lediglich für die Zukunft anzuwenden sei.

18      Daher sei im vorliegenden Fall auf den Zeitraum vor diesem Wechsel deutsches Recht anwendbar, sofern sich nicht nach Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls Gegenteiliges ergebe. Ob diese Bestimmung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, sei jedoch unklar. Das vorlegende Gericht führt in diesem Zusammenhang Rn. 63 des Erläuternden Berichts von Herrn Bonomi zum Haager Protokoll an (auf der Einundzwanzigsten Tagung der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht angenommener Text, im Folgenden: Bonomi-Bericht), wonach die subsidiäre Anknüpfung an das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht nur von Nutzen sei, wenn die Unterhaltsklage in einem anderen Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person erhoben werde, da andernfalls das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht entsprechen würde. Zudem könne diesem Bericht zufolge die subsidiäre Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts nach Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls nur in Betracht kommen, wenn das Verfahren von der verpflichteten Person eingeleitet werde – beispielsweise bei der zuständigen Behörde des Staates ihres eigenen gewöhnlichen Aufenthalts – oder wenn die angerufene Behörde die Behörde eines Staates sei, in dem keine der Parteien ihren Aufenthalt habe.

19      Das vorlegende Gericht möchte angesichts der Tatsache, dass im vorliegenden Fall KP LO nicht gemahnt hat, außerdem wissen, ob Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls auf Fälle anwendbar ist, in denen nach dem nach Art. 3 dieses Protokolls berufenen Recht ein Unterhaltsanspruch besteht, dieser aber für die Vergangenheit versagt wird, weil die berechtigte Person bestimmte gesetzliche Voraussetzungen nicht erfüllt.

20      Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist die Subsidiaritätsanordnung des Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls so auszulegen, dass diese nur zur Anwendung gelangt, wenn der das Unterhaltsverfahren einleitende Antrag in einem anderen Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltsberechtigten eingebracht wird?

Wird diese Frage verneint:

2.      Ist Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls dahin auszulegen, dass sich die Wendung „kein Unterhalt“ auch auf Fälle bezieht, in denen das Recht des bisherigen Aufenthaltsorts bloß mangels Einhaltung bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen keinen Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit vorsieht?

 

Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

21      Vorab ist zu prüfen, ob der Gerichtshof für die Auslegung des Haager Protokolls zuständig ist.

22      Nach Art. 267 AEUV entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Handlungen der Organe der Union.

23      Zum einen hat aber der Rat der Europäischen Union das Haager Protokoll mit dem auf der Grundlage von Art. 300 EG (jetzt Art. 218 AEUV) angenommenen Beschluss 2009/941 gebilligt, wobei der Wortlaut des Protokolls diesem Beschluss beigefügt ist.

24      Zum anderen ist nach ständiger Rechtsprechung ein vom Rat gemäß Art. 218 AEUV geschlossenes Abkommen für die Union die Handlung eines Unionsorgans im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2009, Bogiatzi, C‑301/08, EU:C:2009:649, Rn. 23).

25      Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Auslegung des Haager Protokolls zuständig ist.

 Zur ersten Frage

26      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass er auf einen Fall, in dem die unterhaltsberechtigte Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt gewechselt hat, bei einem Gericht des Staates ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts einen Antrag auf Zahlung von Unterhalt für einen vergangenen Zeitraum stellt, in dem sie sich in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, auch dann Anwendung finden kann, wenn der Staat des angerufenen Gerichts der Staat ist, in dem die unterhaltsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

27      Nach Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls ist das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden, wenn die berechtigte Person nach dem in Art. 3 des Haager Protokolls vorgesehenen Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erhalten kann.

28      Art. 3 des Haager Protokolls enthält die allgemeine Regel in Bezug auf das anzuwendende Recht, nach der für Unterhaltspflichten das Recht des Staates maßgebend ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

29      Wie sich aus Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls ergibt, entfaltet diese Bestimmung, wonach es zulässig ist, statt dem Recht des Staates, in dem die unterhaltsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden, nur praktische Wirksamkeit, wenn es sich um voneinander verschiedenes Recht handelt.

30      Es ist jedoch zu prüfen, ob der Staat des angerufenen Gerichts stets ein anderer als der des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person sein muss, damit das jeweils anwendbare Recht verschieden ist und diese Bestimmung praktische Wirksamkeit entfaltet.

31      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass KP nach Österreich umgezogen ist und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das österreichische Recht ist daher das nach Art. 3 Abs. 1 des Haager Protokolls anwendbare Recht. Allerdings ist das österreichische Recht gemäß Art. 3 Abs. 2 des Haager Protokolls erst seit dem Zeitpunkt anzuwenden, zu dem KP ihren Aufenthalt in Österreich begründet hat, also seit dem 28. Mai 2015. Für den davorliegenden Zeitraum vom 1. Juni 2013 bis zum 28. Mai 2015 ist das Recht des Staates, in dem KP ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, das deutsche Recht.

32      Was das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anbelangt, handelt es sich hierbei um das Recht des Mitgliedstaats, dessen Gerichte von der berechtigten Person angerufen werden, im vorliegenden Fall also um das österreichische Recht.

33      Daraus folgt, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht – im vorliegenden Fall das österreichische Recht – nicht das Recht des Staates ist, in dem die berechtigte Person während des Zeitraums, für den sie Unterhalt beantragt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte – im vorliegenden Fall das deutsche Recht –, Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls praktische Wirksamkeit entfalten kann. Der Umstand, dass die berechtigte Person ein Gericht des Staates angerufen hat, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, so dass der Staat des angerufenen Gerichts dem ihres gewöhnlichen Aufenthalts entspricht, steht der Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegen, da durch die in dieser Bestimmung vorgesehene subsidiäre Anknüpfungsregel ein anderes Recht bestimmt wird als durch die in Art. 3 des Haager Protokolls vorgesehene primäre Anknüpfungsregel.

34      Das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht im Sinne von Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls muss allerdings auch auf einen Unterhaltsantrag anwendbar sein, der für einen vergangenen Zeitraum gestellt wird.

35      Während insbesondere aus dem Bonomi-Bericht deutlich wird, dass Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls auf Unterhaltsanträge anzuwenden ist, die ab dem Tag der Antragstellung laufende Zeiträume betreffen, ist nämlich unklar, ob diese Bestimmung auch auf Zeiträume vor der Antragstellung anzuwenden ist, und wenn ja, an welche Voraussetzungen ein entsprechender Antrag geknüpft ist.

36      Der Europäischen Kommission zufolge ist das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht im Sinne dieser Bestimmung immer dann anzuwenden, wenn die unterhaltsberechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, bzw. bei einem vergangenen Zeitraum nach dem Recht des Staates, in dem sie während dieses Zeitraums ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen Unterhalt erhalten kann. Demgegenüber vertritt die deutsche Regierung die Auffassung, dass auf Unterhaltsanträge, die für vergangene Zeiträume gestellt werden, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht nicht automatisch anzuwenden sei und dass zwischen dem Sachverhalt, aus dem die berechtigte Person ihre Unterhaltsansprüche herleite, und dem anwendbaren Recht eine Verbindung bestehen müsse.

37      Hierzu ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls allein keinen eindeutigen Aufschluss über den Anwendungsbereich dieser Bestimmung gibt.

38      Diese Bestimmung ist unter Berücksichtigung des durch das Haager Protokoll eingeführten Systems von Anknüpfungsregeln und des Ziels dieses Protokolls auszulegen.

39      Zu dem durch das Haager Protokoll eingeführten System von Anknüpfungsregeln ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls eine besondere Regel zugunsten bestimmter berechtigter Personen aufstellt, die die allgemeine Regel in Art. 3 dieses Protokolls ergänzt.

40      Diese erste Feststellung lässt Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung der Kommission aufkommen. Die in Art. 3 Abs. 1 des Haager Protokolls vorgesehene grundsätzliche Anwendbarkeit des Rechts des Staates, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wird nämlich durch Art. 3 Abs. 2 des Haager Protokolls auf den Zeitraum dieses Aufenthalts beschränkt. Wäre Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls dahin auszulegen, dass unter der darin genannten Voraussetzung das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, d. h. in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens das Recht des Staates, in dem die berechtigte Person ihren neuen gewöhnlichen Aufenthalt hat, auch auf den Zeitraum vor der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Staat anwendbar ist, würde dies der in Art. 3 Abs. 2 verankerten allgemeinen Regel in Bezug auf den zeitlichen Anwendungsbereich des Rechts des Staates, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die Wirksamkeit nehmen.

41      Wie insbesondere aus dem Bonomi-Bericht und den von der Kommission, die sich aktiv an den Verhandlungen im Vorfeld der Annahme des Haager Protokolls beteiligte, verfolgten Zielen (vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und das anwendbare Recht in Unterhaltssachen, die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen und die Zusammenarbeit im Bereich der Unterhaltspflichten [KOM(2005) 649 endgültig]) hervorgeht, soll außerdem mit diesem System die Vorhersehbarkeit des anzuwendenden Rechts gewährleistet werden, indem sichergestellt wird, dass nicht ein Recht bestimmt wird, das keinen ausreichenden Bezug zu der jeweiligen familiären Situation besitzt.

42      Art. 3 Abs. 1 des Haager Protokolls sieht insoweit vor, dass grundsätzlich das Recht des Staates anzuwenden ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieses Recht weist den engsten Bezug zu der Situation der unterhaltsberechtigten Person auf und ist daher zur Regelung der konkreten Probleme, auf die sie möglicherweise stößt, am besten geeignet.

43      Um diesen Bezug zu wahren, sieht Art. 3 Abs. 2 des Haager Protokolls vor, dass bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts das Recht des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts ab dem Zeitpunkt dieses Wechsels anzuwenden ist.

44      Was die in Art. 4 Abs. 2 bis 4 des Haager Protokolls enthaltenen besonderen Regeln betrifft, die eine Reihe „kaskadenartig“ anwendbarer primärer und sekundärer Anknüpfungen vorsehen, um der Gefahr zu begegnen, dass die berechtigte Person nach den sukzessive bestimmten Rechtsordnungen keinen Unterhalt erhält, bestimmt Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls als Erstes das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, wenn die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates angerufen hat, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Wie aus Nr. 59 der Schlussanträge des Generalanwalts hervorgeht, besteht zwischen diesem Staat und der familiären Situation der berechtigten und der verpflichteten Person zumindest insoweit eine Verbindung, als es um die Möglichkeiten der Befriedigung der Bedürfnisse der berechtigten Person durch die verpflichtete Person geht. Die Vorhersehbarkeit dieses Rechts ergibt sich zudem daraus, dass seine Anwendbarkeit von der Zuständigkeit des gewählten Gerichts abhängt, die in diesem Fall der klassischen Regel folgt, wonach der Kläger seine Klage am Gerichtsstand des Beklagten erhebt.

45      Ein Bezug zu der familiären Situation ist auch in Art. 4 Abs. 4 des Haager Protokolls erkennbar, der das Recht des Staates, dem die Parteien gemeinsam angehören, als anwendbares Recht bestimmt. Wie der Generalanwalt ebenfalls in Nr. 59 seiner Schlussanträge festgestellt hat, enthält diese Bestimmung nämlich ein gewisses Element der Dauerhaftigkeit in Bezug auf die familiäre Situation der unterhaltsberechtigten und der unterhaltspflichtigen Person.

46      In Anbetracht des im Haager Protokoll normierten Systems der Anknüpfungsregeln und des mit ihm verfolgten Ziels der Vorhersehbarkeit – wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils beschrieben – stünde die in Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls subsidiär vorgesehene Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts weder mit diesem System noch mit diesem Ziel in Einklang, wenn sie allein daraus resultierte, dass die berechtigte Person einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt wählt, ohne dass zwischen diesem Recht und der familiären Situation der unterhaltsberechtigten und der unterhaltspflichtigen Person in dem Zeitraum, auf den sich die Unterhaltspflicht bezieht, eine Verbindung besteht.

47      Der Umstand, dass die Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts die berechtigte Person begünstigen würde, reicht für sich genommen nicht aus, um die Anwendung dieser Bestimmung zu rechtfertigen, da dieses Recht ohne eine solche Verbindung für die verpflichtete Person nicht vorhersehbar wäre.

48      Wie aus den Nrn. 78 und 79 der Schlussanträge des Generalanwalts hervorgeht, kann sich diese Verbindung aus der Zuständigkeit für Unterhaltsstreitigkeiten in Bezug auf den betreffenden Zeitraum ergeben, die das angerufene Gericht gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 4/2009 gehabt hätte.

49      Diese Beurteilung ist angesichts des engen Zusammenhangs zwischen dem Haager Protokoll und der Verordnung Nr. 4/2009 gerechtfertigt. Art. 15 dieser Verordnung verweist nämlich ausdrücklich auf das Haager Protokoll, und die Bestimmung der zuständigen Gerichte gemäß dieser Verordnung ermöglicht indirekt die Bestimmung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts. Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, beruht die Verordnung auf der Prämisse, dass zwischen den Unterhaltsleistungen, die der betreffende Rechtsstreit zum Gegenstand hat, und dem Staat, dessen Gericht für den Rechtsstreit zuständig ist, eine Verbindung besteht.

50      Es ist daher festzustellen, dass die notwendige Verbindung zwischen dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht und der Situation der unterhaltsberechtigten und der unterhaltspflichtigen Person in dem vom Unterhaltsantrag erfassten Zeitraum besteht, wenn das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht dem Recht des Mitgliedstaats entspricht, dessen Gerichte für Unterhaltsstreitigkeiten in Bezug auf den genannten Zeitraum zuständig waren.

51      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass

–        der Umstand, dass der Staat des angerufenen Gerichts jenem entspricht, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, der Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegensteht, wenn durch die in dieser Bestimmung vorgesehene subsidiäre Anknüpfungsregel ein anderes Recht bestimmt wird als durch die in Art. 3 des Haager Protokolls vorgesehene primäre Anknüpfungsregel;

–        auf einen Fall, in dem die unterhaltsberechtigte Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt gewechselt hat, bei den Gerichten des Staates ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts gegen die verpflichtete Person einen Antrag auf Zahlung von Unterhalt für einen vergangenen Zeitraum stellt, in dem sie sich in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, das auch das Recht des Staates ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts ist, Anwendung finden kann, wenn die Gerichte des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts für Unterhaltsstreitigkeiten, die diese Parteien betreffen und sich auf den genannten Zeitraum beziehen, zuständig waren.

 Zur zweiten Frage

52      Mit der zweiten Frage soll geklärt werden, ob die in Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls enthaltene Wendung „kann … keinen Unterhalt erhalten“ auch den Fall erfasst, dass die berechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen Unterhalt erhalten kann, weil sie bestimmte nach diesem Recht bestehende Voraussetzungen nicht erfüllt.

53      Diese Frage stellt sich für den Fall, dass das vorlegende Gericht angesichts der Antwort auf die erste Frage feststellen sollte, dass die österreichischen Gerichte gemäß der Verordnung Nr. 4/2009 zuständig für einen von KP für den Zeitraum vom 1. Juni 2013 bis zum 28. Mai 2015 gestellten Unterhaltsantrag waren. In einer solchen Situation könnte nämlich das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht – im vorliegenden Fall das österreichische Recht – Anwendung finden, wenn die unterhaltsberechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie während eines vergangenen Zeitraums wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, d. h. im vorliegenden Fall nach deutschem Recht, „keinen Unterhalt erhalten [kann]“. Es ist daher zu prüfen, ob sich eine unterhaltsberechtigte Person wie KP in einer solchen Situation befindet.

54      Für die Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, auf den Bonomi-Bericht Bezug zu nehmen, in dem gerade diese Problemstellung erörtert wird.

55      Diesem Bericht zufolge kann die unterhaltsberechtigte Person nicht nur dann in den Genuss des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts gelangen, wenn das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts überhaupt keine Unterhaltspflicht aus der in Rede stehenden Familienbeziehung vorsieht (weil es z. B. keine Pflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern vorsieht), sondern auch wenn eine solche Pflicht zwar grundsätzlich anerkannt wird, sie aber von einer Bedingung abhängig gemacht wird, die im vorliegenden Fall nicht gegeben ist. Der Bericht führt als Beispiel den Fall an, dass nach dem Recht des Staates, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die Pflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern mit Vollendung des 18. Lebensjahrs erlischt und dass die berechtigte Person dieses Alter erreicht hat.

56      Daher ist nach dieser Auslegung Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls auch dann anzuwenden, wenn eine gesetzliche Voraussetzung nicht erfüllt ist.

57      Diese weite Auslegung von Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls entspricht dem in Rn. 44 des vorliegenden Urteils erwähnten Ziel dieser Bestimmung, der Gefahr zu begegnen, dass die berechtigte Person nach dem als Erstes bestimmten Recht keinen Unterhalt erhält.

58      Diese Auslegung erfasst gerade den im Ausgangsverfahren fraglichen Fall, dass die berechtigte Person deshalb keinen Unterhalt erhalten kann, weil sie die verpflichtete Person nicht gemahnt hat und daher eine gesetzliche Voraussetzung – im vorliegenden Fall die nach § 1613 BGB – nicht erfüllt hat. Wie aus Nr. 93 der Schlussanträge des Generalanwalts hervorgeht, weist nämlich nichts darauf hin, dass die Untätigkeit der berechtigten Person die Anwendung von Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls ausschließt.

59      Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die in Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls enthaltene Wendung „kann … keinen Unterhalt erhalten“ dahin auszulegen ist, dass sie auch den Fall erfasst, dass die berechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen Unterhalt erhalten kann, weil sie bestimmte nach diesem Recht bestehende Voraussetzungen nicht erfüllt.

 Kosten

60      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, das mit dem Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt wurde, ist dahin auszulegen, dass

–        der Umstand, dass der Staat des angerufenen Gerichts jenem entspricht, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, der Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegensteht, wenn durch die in dieser Bestimmung vorgesehene subsidiäre Anknüpfungsregel ein anderes Recht bestimmt wird als durch die in Art. 3 des Haager Protokolls vorgesehene primäre Anknüpfungsregel;

–        auf einen Fall, in dem die unterhaltsberechtigte Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt gewechselt hat, bei den Gerichten des Staates ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts gegen die verpflichtete Person einen Antrag auf Zahlung von Unterhalt für einen vergangenen Zeitraum stellt, in dem sie sich in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, das auch das Recht des Staates ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts ist, Anwendung finden kann, wenn die Gerichte des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts für Unterhaltsstreitigkeiten, die diese Parteien betreffen und sich auf den genannten Zeitraum beziehen, zuständig waren.

2.      Die in Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 enthaltene Wendung „kann … keinen Unterhalt erhalten“ ist dahin auszulegen, dass sie auch den Fall erfasst, dass die berechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen Unterhalt erhalten kann, weil sie bestimmte nach diesem Recht bestehende Voraussetzungen nicht erfüllt.

EuGH 7.6.2018, Rechtssache C‑83/17