Ehescheidung in Österreich oder Schweiz?
Sachverhalt
Die Kl und der Bekl sind österr Staatsbürger und schlossen am 1. 9. 1998 vor dem Standesamt Wien-Hietzing die Ehe. Ihr letzter gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt befand sich in Wien, wo die Kl nach wie vor wohnt. Am 19. 8. 2022 brachte der hier Bekl beim Bezirksgericht Luzern eine auf Art 114 ZGB gestützte Scheidungsklage ein. Nach dem in der Schweiz geltenden Art 114 ZGB kann ein Ehegatte die Scheidung verlangen, wenn die Ehegatten mindestens zwei Jahre getrennt gelebt haben. Mit der beim ErstG am 7. 9. 2022 eingebrachten Klage begehrt die Kl die Ehescheidung nach § 49 EheG, weil der Bekl eine ehebrecherische Beziehung eingegangen sei und das alleinige Verschulden an der Zerrüttung verantworte.
Das ErstG wies die Klage wegen Streitanhängigkeit zurück. Das RekG gab dem Rek der Kl Folge und verwarf die vom Bekl erhobene Einrede der Streitanhängigkeit. Der OGH wies den dagegen erhobenen aoRevRek zurück.
Aus den Entscheidungsgründen
- Auch ein im Ausland anhängiges Verfahren stellt nach stRsp – außerhalb des Anwendungsbereichs von Art 20 Brüssel IIb-VO – nach den Regeln über die Rechtshängigkeit ein Prozesshindernis dar, wenn die ausländische Entscheidung im Inland anerkennungsfähig wäre und vollstreckt werden könnte, wie dies hier aufgrund des Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrags zwischen Österreich und der Schweiz vom 16. 12. 1960, BGBl 125/1962 zutrifft (RS0120264). Durch die Beachtung der ausländischen Rechtshängigkeit sollen einander widersprechende Entscheidungen in ein und derselben Sache verhindert werden (8 Ob 18/08t).
- Der gleiche Streitgegenstand liegt aber nur vor, wenn der in der neuen Klage geltend gemachte prozessuale Anspruch sowohl hinsichtlich des Begehrens als auch hinsichtlich des rechtserzeugenden Sachverhalts, also des Klagsgrundes, mit jenem des Vorprozesses identisch ist (RS0039347; RS0041229). Die Identität der rechtserzeugenden Tatsachen ist nach der Rsp des OGH zu verneinen, wenn in einer zweiten Scheidungsklage zusätzliches Vorbringen zum Verschulden des Beklagten an der Zerrüttung erstattet wird und es nach dem anzuwendenden materiellen Recht auf das Verschulden dieses Ehegatten ankommt (RS0123717). Die in der Schweiz wegen einer zwei Jahre übersteigenden häuslichen Trennung erhobene Scheidungsklage steht daher der beim ErstG eingebrachten und auf das Verschulden des Beklagten gestützten Scheidungsklage nicht entgegen.
- Auf die Entscheidung 8 Ob 116/11h, wonach eine in Tunesien wegen Zerrüttung der Ehe eingebrachte Scheidungsklage einer inländischen auf Verschulden gestützten Scheidungsklage entgegensteht, kann sich der Bekl nicht berufen, weil in diesem Verfahren die vom allgemeinen Streitgegenstandsbegriff abweichende Auslegung des Art 14 des Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrags zwischen Österreich und der Tunesischen Republik, BGBl 305/1980, unstrittig war. Auch enthält der Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrag zwischen Österreich und der Schweiz keine vergleichbare Regelung.
OGH 19.10.2023, 8 Ob 95/23p
Anmerkung/Praxistipp
Der Fall ist ein „Klassiker“, der den OGH schon öfter beschäftigt hat[1]: zunächst klagt der Ehemann im Ausland auf Scheidung der Ehe wegen Zerrüttung, danach klagt die Ehefrau in Österreich auf Scheidung wegen Verschuldens. Daraus entsteht das Problem paralleler Rechtshängigkeit.
Spielt der Fall innerhalb der EU, gilt nach Art 20 Brüssel IIb-VO (ex Art 19 Brüssel IIa-VO) eine absolute Sperre für das spätere Verfahren: gleich auf welche Rechtsgrundlage die frühere Scheidungsklage gestützt wird, ist das später angerufene Gericht unzuständig: „ein Verfahren sperrt alle anderen“.[2] Nach der Scheidung im Ausland kann erforderlichenfalls in Österreich mit „Verschuldensergänzungsklage“ vorgegangen werden, wenn das Verschulden für den Unterhaltsanspruch von Bedeutung ist.[3]
Anders stellt sich die Rechtslage im Verhältnis zu Staaten außerhalb der EU dar. Der OGH[4] lässt in diesen Fällen eine Sperrwirkung des ausländischen Verfahrens grundsätzlich nur gelten, wenn die Klagegründe identisch sind. Die Klage wegen bloßer „Zerrüttung“ stellt nach dieser Ansicht kein Prozesshindernis für die „weitergehende“ Verschuldensklage dar. Dass der „Kern“ der Klagen – die Ehescheidung – gleich ist, spielt für den OGH keine Rolle. Das kann man so sehen, muss man aber nicht.[5] Man könnte auch das inländische Verfahren aussetzen, die Scheidung im Ausland abwarten und dann das Verschulden im fortgesetzten Verfahren klären. Damit würde zumindest der Verfahrensaufwand im Ausland nicht frustriert.
Auch die besprochene Entscheidung scheint zunächst in dieses Bild zu passen: die Zerrüttungsklage in der Schweiz ist kein Prozesshindernis für die spätere Verschuldensklage in Österreich. Allerdings hat der OGH ein kleines Problem. In der vereinzelt gebliebenen Entscheidung 8 Ob 116/11h hat der derselbe Senat ausgesprochen, dass die frühere Zerrüttungsklage des Mannes in Tunesien die spätere Verschuldensklage der Frau in Österreich sperrt, weil dies in Art 14 des Vollstreckungsvertrags zwischen Tunesien und Österreich (BGBl 1980/305) so angelegt sei. Dieser Art 14 lautet: (1) Die Gerichte jedes der Vertragsstaaten haben, je nach den Vorschriften ihres innerstaatlichen Rechts, einen Antrag entweder zurückzuweisen oder die Entscheidung aufzuschieben, wenn ein gleicher, auf denselben Rechtsanspruch gestützter Antrag zwischen denselben Parteien schon vor einem Gericht des anderen Staates anhängig ist und darüber eine nach diesem Abkommen anzuerkennende Entscheidung gefällt werden kann.
Aber nicht nur mit Tunesien, auch mit der Schweiz hat Österreich einen einschlägigen Staatsvertrag (BGBl 1962/125) geschlossen. Dort heißt es in Art 8: Ist ein Verfahren vor einem Gericht eines der beiden Staaten anhängig und wird die Entscheidung über den Gegenstand dieses Verfahrens im andern Staate voraussichtlich anzuerkennen sein, so hat ein später befaßtes Gericht dieses andern Staates die Durchführung eines Verfahrens über denselben Gegenstand und zwischen denselben Parteien abzulehnen.
Wenn der OGH nun in der rezenten Entscheidung meint, „auch enthält der Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrag zwischen Österreich und der Schweiz keine vergleichbare Regelung“ wie jener mit Tunesien, so provoziert das doch einen gewissen Widerspruch. Ich würde meinen, dass beide Bestimmungen nur im Wortlaut leicht voneinander abweichen. Einmal geht es um „denselben Rechtsanspruch“, das andermal um „denselben Gegenstand“. Die Bezugnahme auf die „Vorschriften ihres innerstaatlichen Rechts“ im Staatsvertrag mit Tunesien hat allein Bedeutung für die Frage, ob die Klage zurückgewiesen oder aufgeschoben werden soll. Gemeint ist in beiden Staatsverträgen sicherlich dasselbe: es sollen keine parallelen Verfahren über dieselbe „Sache“ geführt werden. Was das genau im Fall der Scheidung bedeutet, hätte durch Auslegung anhand der Wiener Vertragsrechtskonvention geklärt werden müssen. So bleibt nur zu konstatieren, dass entweder 8 Ob 116/11h oder 8 Ob 95/23p unrichtig sein muss.
[1] Vgl zB 5 Ob 629/82 im Verhältnis zu Italien, 2 Ob 596/85 im Verhältnis zu Frankreich, 8 Ob 18/08t im Verhältnis zu Serbien, 8 Ob 116/11h im Verhältnis zu Tunesien, zuletzt 6 Ob 156/20i im Verhältnis zu Nordmazedonien.
[2] EuGH 6.10.2015, C-489/14 [A./B.], Rz 33.
[3] 3 Ob 58/20f.
[4] Vgl Nachweise in Fn 1, mit Ausnahme der Entscheidung 8 Ob 116/11h.
[5] Vgl Nademleinsky/Neumayr, Zur Sperrwirkung eheauflösender Verfahren in Drittstaaten, in FS Konecny [2022] 365.