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Anwendbares Recht bei Unterhaltsherabsetzung | Rechtsanwalt in Wien, Dr. Nademleinsky

Rechtsprechung

Anwendbares Recht bei Unterhaltsherabsetzung

Die Tochter lebt und studiert in Italien, der Vater lebt im Raum Innsbruck. Zunächst legt das BG Innsbruck den Unterhalt des Vaters mit Euro 650 fest, dann verdient er weniger und begehrt eine Herabsetzung. Nach welchem Recht?

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Herr Alexander Mölk hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich, seine Tochter, Frau Valentina Mölk, in Italien. Herr Mölk ist aufgrund eines Beschlusses des BG Innsbruck (Österreich) vom 10. Oktober 2014 verpflichtet, an Frau Mölk einen monatlichen Unterhaltsbeitrag zu leisten. Der Beschluss des BG Innsbruck erging gemäß Art 4 Abs 3 des Haager Protokolls (HUP) in Anwendung österreichischen Rechts, und zwar auf einen Unterhaltsfestsetzungsantrag hin, den die berechtigte Person, Frau Mölk, bei dem Gericht gestellt hatte. 2015 beantragte Herr Mölk beim selben Gericht, den Unterhaltsbeitrag ab dem 1. Februar 2015 wegen Verringerung seines Nettoeinkommens herabzusetzen. Frau Mölk beantragte die Abweisung des Herabsetzungsbegehrens. Mit Beschluss vom 11. Dezember 2015 wies das BG Innsbruck den Antrag von Herrn Mölk in Anwendung italienischen Rechts ab, das seiner Auffassung nach gem Art 3 Abs 1 HUP anzuwenden war, weil Frau Mölk zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien gehabt habe. Mit Beschluss vom 9. März 2016 bestätigte das LG Innsbruck als RekG die Entscheidung des BG, legte seiner Beurteilung aber österreichisches Recht zugrunde. Es könne bei unverändertem gewöhnlichem Aufenthalt beider Parteien nicht schon deswegen zu einer Änderung des vom BG in seinem Beschluss vom 10. Oktober 2014 angewandten Rechts kommen, weil die verpflichtete Person nur wenige Monate später, als der Beschluss bereits rk gewesen sei, einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags gestellt habe. Herr Mölk erhob beim vorlegenden Gericht (OGH) RevRek. Er strebt die Beurteilung des Unterhaltsanspruchs nach italienischem Recht an. Er meint, seinem Antrag wäre bei richtiger Anwendung dieses Rechts stattzugeben gewesen. Das vorlegende Gericht fragt sich, welches Recht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anzuwenden ist. Es weist darauf hin, dass hierzu in der Lehre zwei Auffassungen vertreten würden. Nach der einen Auffassung sei gem Art 3 HUP das Recht des Staates anzuwenden, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe, auch wenn es nicht das Recht des Staates sei, dessen Behörde den ursprünglichen Unterhaltstitel geschaffen habe. Nach der anderen Auffassung sei auf die Entscheidung über die Änderung einer inländischen oder einer anerkannten ausländischen Entscheidung das derzeitige Unterhaltsstatut anzuwenden.

  

Vorlagefragen:

1. Ist Art 4 Abs 3 iVm Art 3 HUP dahin auszulegen, dass auf den Antrag einer verpflichteten Person auf Herabsetzung eines rk festgelegten Unterhaltsbeitrags wegen geänderter Einkommensverhältnisse auch dann das Recht des Staates maßgeblich ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn der bisher zu bezahlende Unterhaltsbeitrag auf deren Antrag gem Art 4 Abs 3 HUP vom Gericht nach dem Recht des Staates festgesetzt worden war, in dem die verpflichtete Person ihren unveränderten gewöhnlichen Aufenthalt hat?

2. Falls die Frage 1 bejaht wird: Ist Art 4 Abs 3 HUP dahin auszulegen, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, auch dadurch „anruft“, dass sie sich in ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren iSd Art 5 EuUVO durch Bestreiten in der Sache einlässt?

Aus den Erwägungen:

Zu Frage 1: Was den Kontext von Art 4 Abs 3 HUP angeht, ist festzustellen, dass diese Bestimmung zu einem durch das Haager Protokoll eingeführten System von Anknüpfungsregeln gehört, nach dem grundsätzlich das Recht des Staates anzuwenden ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art 3 HUP). Nach Ansicht der Verfasser des Haager Protokolls weist dieses Recht den engsten Bezug zur Situation der unterhaltsberechtigten Person auf und ist daher zur Regelung der konkreten Probleme, auf die sie möglicherweise stößt, am besten geeignet.

Art 4 Abs 3 HUP stellt eine Ausnahme von der darin aufgestellten Regel dar, nach der die zuständige Behörde grundsätzlich das Recht des Staates anwendet, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Anknüpfung erfolgt bei dieser Bestimmung umgekehrt als bei Art 3 und Art 4 Abs 2 des Protokolls: Hat die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates angerufen, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist primär das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden, sekundär, wenn die berechtigte Person nach diesem Recht keinen Unterhalt erhalten kann, das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person.

Da das Haager Protokoll vorsieht, dass anstelle des Rechts des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person primär das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zur Anwendung kommen kann, hat die berechtigte Person die Möglichkeit, durch Anrufung der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zu wählen. Diese Möglichkeit dient dem Schutz der berechtigten Person, die im Verhältnis zur verpflichteten als die schwächere Partei angesehen wird. Ihr wird hinsichtlich des auf ihren Antrag anzuwendenden Rechts de facto das Recht der Rechtswahl eingeräumt. Ist das auf Antrag der berechtigten Person eingeleitete Verfahren durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen, gebietet Art 4 Abs 3 HUP daher nicht, dass sich die Wirkungen der von der berechtigten Person getroffenen Rechtswahl auf ein neues, nicht durch sie, sondern durch die verpflichtete Person eingeleitetes Verfahren erstrecken. 

Im Übrigen ist die Regel des Art 4 Abs 3 HUP als Ausnahme von der Regel des Art 3 des Protokolls eng auszulegen. Es ist unzulässig, ihren Anwendungsbereich auf Fälle auszudehnen, die die Tatbestandsmerkmale der Bestimmung nicht erfüllen.

Dieses Ergebnis wird bestätigt durch den von Herrn Andrea Bonomi erstellten Erläuternden Bericht zum Haager Protokoll. In dem Bericht heißt es in Rn. 67, dass die Abweichung von der grundsätzlichen Anknüpfung an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person gerechtfertigt sein kann, wenn die berechtigte Person selbst beschließt, die Klage in dem Staat des Aufenthalts der verpflichteten Person zu erheben, während sie in dem Fall, in dem die Klage auf Betreiben der verpflichteten Person in diesem Land erhoben worden wäre, überzogen erscheint, z. B. im Fall eines Antrags auf Änderung einer Unterhaltsentscheidung.

Auch ein Vergleich von Art 4 Abs 3 HUP mit dessen Vorschriften über die Wahl des auf eine Unterhaltspflicht anzuwendenden Rechts durch Vereinbarung der Parteien (Art 7 und 8) bestätigt die Einschätzung, zu der der GH in den vorstehenden Randnummern gelangt ist. …

Würde die ursprüngliche Wahl des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts durch die berechtigte Person gem Art 4 Abs 3 HUP bedeuten, dass dieses Recht auch in einem späteren, von der verpflichteten Person vor der zuständigen Behörde des Staates seines gewöhnlichen Aufenthalts eingeleiteten Verfahren anzuwenden ist, könnten auf diese Weise das Mindestalter gem Art 8 Abs 3 HUP und die übrigen Schutzvorschriften von dessen Art 8 umgangen werden.

Somit ist festzustellen, dass Art 4 Abs 3 HUP lediglich den Fall betrifft, dass die berechtigte Person in einem von ihr bei der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Personen eingeleiteten Verfahren mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht wählt. Die Bestimmung gilt nicht für ein späteres Verfahren, das eingeleitet wird, nachdem die Entscheidung im ursprünglichen Verfahren rechtskräftig geworden ist.

Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass das spätere Verfahren möglicherweise kurz nach dem ursprünglichen Verfahren eingeleitet worden ist und es widersprüchlich wäre, entgegengesetzte Anträge, die sich auf einen kurzen Zeitraum beziehen, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt der Parteien nicht geändert hat, nach zwei verschiedenen Rechtsordnungen zu beurteilen, wie die portugiesische Regierung geltend macht. Die Bestimmung des anwendbaren Rechts kann nämlich nicht vom Zeitpunkt der Einleitung eines zweiten Verfahrens abhängen. Eine solche Auslegung ließe sich nicht mit dem Ziel der Vorhersehbarkeit vereinbaren, das mit dem Haager Protokoll verfolgt wird. Dass in aufeinanderfolgenden Verfahren zwischen denselben Parteien verschiedene Rechtsordnungen angewandt werden, ist zwar misslich, dürfte aber so im System der Kollisionsnormen des Haager Protokolls angelegt sein, wie der Generalanwalt in den Nrn. 42 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.

Zu Frage 2

Bei einer von der verpflichteten Person bei der Behörde des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts erhobenen Klage kann die Zuständigkeit dieser Behörde gem Art 5 der EuUVO zwar durch Einlassung der berechtigten Person auf das Verfahren begründet werden. Eine solche Hinnahme der Zuständigkeit der Behörde des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person bedeutet aber nicht, dass diese auch von der berechtigten Person im Sinne von Art 4 Abs 3 des Haager Protokolls „angerufen“ worden wäre. Sonst würde, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, das Art 4 Abs 3 HUP als anwendbares Recht vorsieht, in allen Verfahren zur Anwendung kommen, die vor der Behörde des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person eingeleitet werden. Wie sich aus der Antwort auf Frage 1 ergibt, hat die berechtigte Person aber nur bei Verfahren, die sie selbst eingeleitet hat, gem Art 4 Abs 3 HUP die Möglichkeit, mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zu wählen.

Antworten:

1. Art 4 Abs 3 HUP ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, wo der zu zahlende Unterhaltsbeitrag auf Antrag der berechtigten Person gem Art 4 Abs 3 HUP nach dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht festgesetzt worden ist, dieses Recht nicht auch für einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags maßgeblich ist, den die verpflichtete Person in der Folge bei einem Gericht des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen die berechtigte Person stellt.

2. Art 4 Abs 3 HUP ist dahin auszulegen, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person nicht im Sinne dieser Bestimmung „anruft“, wenn sie sich auf ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art 5 EuUVO durch Bestreiten in der Sache einlässt.

Anmerkung: Die Vorabentscheidung des EuGH geht auf die Anrufung durch den OGH im Verfahren 8 Ob 45/16z zurück. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Die Tochter lebt und studiert in Italien, der Vater lebt im Raum Innsbruck. Die Tochter begehrt in Österreich vom Vater Unterhalt. Das BG Innsbruck ist zuständig (Art 3 lit a EuUVO, „Beklagtengerichtsstand“) und wendet gem Art 4 Abs 3 HUP „das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht“, also  österreichisches Recht an. Der Unterhalt wird mit Euro 650 festgesetzt. Hätte die Tochter den Antrag in Italien gestellt (Art 3 lit b EuUVO), wäre gem Art 3 HUP das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt der unterhaltsberechtigten Tochter, also italienisches Recht zur Anwendung gekommen. Nur wenige Monate nach Titelschaffung  hat der Vater Gehaltseinbußen und beantragt am BG Innsbruck die Herabsetzung seiner Unterhaltspflicht auf Euro 490. Das BG Innsbruck ist nur zuständig, weil sich die Tochter auf das Verfahren einlässt (Art 5 EuUVO). Hätte sie die Zuständigkeit bestritten, so hätte der Vater sein Herabsetzungsbegehren in Italien verfolgen müssen, in welchem Fall italienisches Recht zur Anwendung gekommen wäre. Und so? Der EuGH legt Art 4 Abs 3 HUP einschränkend aus und kommt zu dem Schluss, dass für den in Österreich gestellten Antrag des Vaters ebenfalls nach der allgemeinen Regel des Art 3 HUP das Unterhaltsrecht am gewöhnlichen Ort der Tochter, also italienisches Recht, gilt. Über die Vor- und Nachteile dieser Lösung – die auch für vergleichbare Konstellationen gelten wird, zB für den Fall, dass sich die (Auffangs-)Zuständigkeit aus der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Parteien ergibt und das unterhaltsberechtigte Kind außerhalb der EU lebt – wird sicher noch viel diskutiert werden, zumindest herrscht jetzt Rechtssicherheit.

EuGH 20.9.2018, Rs C-214/17 [Mölk/Mölk]