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Kind muss im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren gehört werden | Rechtsanwalt in Wien, Dr. Nademleinsky

Rechtsprechung

Kind muss im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren gehört werden

Der Kinder- und Jugendhilfeträger hat beantragt, die Obsorge der Mutter zu entziehen und ihm zu übertragen. Der Minderjährige sei durch die fehlende Verlässlichkeit in der Pflege sowie den Mangel an sorgfältiger Erziehung und Förderung seiner Anlagen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten in der Obhut der Mutter gefährdet. Die Mutter wendete ein, sie habe ihren Sohn seit 14 Jahren alleine erzogen und betreut, er habe noch nie leiden müssen.

Das Erstgericht entzog – ohne den Sohn dazu gehört zu haben – der Mutter die Obsorge für ihren Sohn im Bereich Pflege und Erziehung und übertrug die gesetzliche Vertretung insoweit auf den Kinder- und Jugendhilfeträger. Gleichzeitig erkannte es dem Beschluss vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu. Ausgehend vom Sachverständigengutachten sowie den Stellungnahmen des Kinder- und Jugendhilfeträgers ging es davon aus, dass die Mutter sowohl für die Schule als auch für den Kinder- und Jugendhilfeträger nur schwer erreichbar sei und es immer wieder großer Überzeugungsarbeit bedürfe, damit der Minderjährige etwa an Schulveranstaltungen teilnehmen dürfe. Die Mutter sei nicht ausreichend erziehungsfähig. Sie weise massive strukturelle Defizite bei Wohnversorgung, Tagesstruktur sowie der Einhaltung von Terminen auf. Ihre Kooperationsbereitschaft sei eingeschränkt, sie sei gegenüber der Außenwelt skeptisch, nicht paktfähig und neige zur sozialen Abschottung. Dies beeinträchtige nicht nur die Erziehungskompetenz der Mutter, sondern in der Folge auch das Wohl des Minderjährigen, weil dieser weder geordnete Lebensverhältnisse habe, noch seine Entwicklungsbedürfnisse gewahrt würden. Überdies sei die kontinuierliche Wohnversorgung des Minderjährigen gefährdet. Aufgrund mangelnder Problemeinsicht und Kooperationsbereitschaft könnten auch eventuelle Unterstützungsmaßnahmen im Haushalt der Mutter das Kindeswohl mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend sicherstellen. Bei einem weiteren Verbleib des Sohnes in der Betreuung seiner Mutter sei zu befürchten, dass er im Hinblick auf den altersentsprechend beginnenden Ablösungsprozess und seine Autonomieentwicklung nicht ausreichend von der Mutter unterstützt werde, vielmehr seine individuelle Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt werden könnte. Die Voraussetzungen für die Entziehung der Obsorge lägen daher vor.

Das Rekursgericht bestätigte die Obsorgeentziehung.

Der OGH:

Das Unterbleiben der persönlichen Einvernahme des betroffenen Minderjährigen bildet daher einen gravierenden Verfahrensmangel, der im Hinblick auf die Gefährdung des Kindeswohls auch ungeachtet des Unterbleibens einer entsprechenden Rüge im Rekurs der (damals noch unvertretenen) Mutter gegen die erstinstanzliche Entscheidung aufgegriffen werden muss. Eine Sanierung des Mangels des Verfahrens erster Instanz erfolgte auch in zweiter Instanz nicht.

Zwar ist der Wunsch des Minderjährigen für die ausschließlich am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung nicht allein maßgeblich, die Erforschung des Willens des inzwischen mündigen Minderjährigen ist aber Voraussetzung einer alle maßgeblichen Umstände berücksichtigenden Entscheidung. Der Anhörung vor dem erkennenden Gericht ist grundsätzlich der Vorzug zu geben.

Hiezu kommt, dass der Minderjährige (nach der Aktenlage) zwar gegenüber der Sachverständigen angab, doch lieber bei der Mutter bleiben zu wollen, in der Kurzstellungnahme der Sozialarbeiterin des Jugendamts vom 28. März 2017 aber davon gesprochen wird, dass er am Pflegeplatz wohnen bleiben möchte. Referiert wird dort auch, dass der Minderjährige zwischenzeitlich gedacht habe, dass er, wenn seine Mutter wieder eine Wohnung gefunden habe, zu ihr ziehen könnte. „Allerdings sei dies aufgrund des Gutachtens und des Gerichtsbeschlusses nicht möglich, das wisse er.“ Die zuletzt referierte Äußerung lässt Zweifel daran aufkommen, ob sie unbeeinflusst erfolgt ist. Der auf das Gutachten aufbauende erstinstanzliche Beschluss ist schließlich nicht rechtskräftig, sondern vielmehr im Rechtsmittelverfahren zu überprüfen.

Der geltend gemachte Verfahrensmangel muss daher zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen. Das Erstgericht wird nach Befragung des Kindes eine neuerliche Entscheidung über den Antrag auf (teilweise) Obsorgeentziehung zu treffen haben.

In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie sollte den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt, sodass die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel ist und nur insoweit angeordnet werden darf, als sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Von einer solchen Vorkehrung darf das Gericht nur aus schwerwiegenden Gründen Gebrauch machen. An diesen Grundsätzen hat sich auch durch das KindNamRÄG 2013 nichts geändert. Insgesamt ist zwar bei der Frage der Entziehung der Elternrechte der Wunsch des Kindes allein nicht entscheidend, jedoch ist dieser Wunsch bei entsprechendem Alter des Kindes doch zu berücksichtigen. Überdies wäre die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, den Minderjährigen ohne Obsorgeentziehung zu unterstützen, soweit dafür nach den nunmehr allenfalls geänderten Verhältnissen Bedarf besteht.

OGH 24.8.2017, 4 Ob 131/17v